Sanierungsgebiet Brunnenstraße | Katalogtext zur Ausstellung "Schreber Jugend", organisiert von Rampe 003
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Schreber Jugend, Berlin 2002



Berlin-Wedding, 1951. Anläßlich der 700-Jahr-Feier des Bezirks Wedding werden in einer Ausstellung der Bezirksbauverwaltung zwei große Schautafeln einander gegenübergestellt: "Der Wedding vor dem Kriege" ist die eine, "Wie der Wedding werden soll" die andere betitelt. Man mußte kein Stadtplaner sein, um zu erkennen, was die Zukunft bringen wird. Die gründerzeitlichen Blöcke der "Mietskasernen" sind mit einem Grauschleier überzogen, als hätte die amorphe Struktur ihrer Hinterhäuser die Farbe des Plangrafikers wie ein trockener Schwamm aufgenommen. Matschig und düster wirken sie; schwere, undurchdringliche Brocken, die das Leben darin zu ersticken scheinen. Die Wohnsiedlungen der zwanziger Jahre heben sich dagegen deutlich ab. Haus für Haus ist präzise eingezeichnet, ein gleichmäßiger Takt dunkler Balken auf hellem Grund. Luftig und sonnig war es dort, das kannte man ja. Dasselbe war auch von den geplanten neuen Stadtvierteln zu erwarten, die auf die gleiche Weise dargestellt werden. Die Beschriftung des Plans nennt als Ziele: "lockere Bebauung von Gründurchzügen, Beseitigung der Hinterhöfe, organische Ordnung des Stadtraumes nach seinen Funktionen".

Vier Jahre später werden die Häuser Ackerstraße 123-125 gesprengt. Es ist die erste Sprengung vom Krieg völlig unversehrter Mietshäuser. Für die 34 abgerissenen Wohnungen entstehen an gleicher Stelle 34 neue, mit zeitgenössischem Komfort ausgestattete Wohnungen in einem Laubenganghaus, das zum 2. Bauabschnitt der Ernst-Reuter-Siedlung gehört. Mit dieser "lichtdurchfluteten Wohnsiedlung zwischen Grünanlagen", wie eine Lokalzeitung im Jargon der Stadtplaner jubelte, entstand in unmittelbarer Nähe der Zonengrenze ein Gegenentwurf zu den Bauvorhaben im Osten der Stadt, denn, so beispielsweise der Wiederaufbauminister von Nordrhein-Westfalen, "die Aufbaupropaganda im Sowjetsektor sollte Westdeutschland veranlassen, den Wohnungsbau in Westberlin mehr als bisher zu fördern". Für eines der geplanten Hochhäuser der Ernst-Reuter-Siedlung wird kurzerhand die Zahl der Stockwerke von dreizehn auf fünfzehn erhöht, da an der Stalinallee die Marke von dreizehn Geschossen bereits erreicht wurde. "Wer die Frage des Wohnungsbaues in Deutschland nicht löst, wird mit Sowjetrussland nicht fertig", hatte ein führender CDU-Baupolitiker schon 1952 gewarnt.

Während im Wedding die Arbeiten an der Ernst-Reuter-Siedlung noch im Gange sind, beginnen im Tiergarten die Planungen für das neue Hansaviertel. Die "Stadt von morgen" auf dem keineswegs völlig zerstörten Terrain des einst großbürgerlich geprägten Viertels treibt das architektonische Wettrüsten auf die Spitze. Der radikale Bruch mit der Vorkriegsbebauung unter Beteiligung international bekannter Architekten ist das "freiheitliche" Gegenprogramm zu den "diktatorisch ausgerichteten Bauten" beiderseits der Stalinallee. Es ist das erste und zugleich das letzte Mal, dass dem hemmungslosen "Wiederaufbau" des Westens ein bürgerliches Viertel zum Opfer fällt. In der Folge konzentrieren sich die Stadtplaner darauf, wie zuvor schon im Wedding, die traditionellen Arbeiterviertel vom "städtebaulichen Krebsgeschwür" der verwinkelten "Mietskasernen" zu befreien.

Berlin-Wedding, 1961. In der Kösliner Straße werden 101 intakte Wohnungen gesprengt, die aber nur durch 45 neue Wohnungen auf diesem Grundstück ersetzt werden. Von den 101 Mietparteien ziehen es 100 vor, weiter in Altbauten zu wohnen, da es dort günstiger ist. Die Stadt wird weiter systematisch ausgedünnt. Die Tagespresse zeigt sich erfreut, das den "Bruchbuden" und "West-Berliner Slums" der Garaus gemacht wird. Unerwähnt bleibt, dass sich in der Kösliner Straße 1929 der Weddinger "Blutmai" ereignete. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel ließ die von den überwiegend kommunistischen Bewohnern der Kösliner Straße nach einer 1.Mai-Demonstration errichteten Barrikaden stürmen, es wurden 33 Menschen dabei erschossen. Bald darauf werden die Ereignisse von Hans Eisler in dem Lied "Der rote Wedding" festgehalten. Der Abriss der Gebäude in der Kösliner Straße erfolgt wiederum in sozialdemokratischen Auftrag.

Berlin, 1963. Der Senat von West-Berlin beschließt das "1. Stadterneuerungsprogramm". Neben den Gebieten Rollberge (Neukölln), Wassertorplatz (Kreuzberg) und anderen, wird auch die Brunnenstraße (Wedding) in die euphemistisch "Flächensanierung" genannte Maßnahme einbezogen. Das Weddinger Wohnviertel ist fast so groß, wie alle übrigen Gebiete zusammen. 39.000 Menschen leben in 14.700 Wohnungen, 1.760 Läden und Betriebe des Klein- und Mittelgewerbes gibt es noch 1961 in dem Arbeiterquartier. Deren Zahl geht allerdings nach dem Mauerbau zurück, da viele Kunden aus dem angrenzenden Prenzlauer Berg nun nicht mehr hinübergelangen. Das Viertel ist baulich weitgehend intakt, eine Luftaufnahme von 1959 zeigt kaum Kriegsschäden. In Gutachten wird jedoch empfohlen, die Altbauten zu entfernen.

Die Anwohner der Sanierungsgebiete sollen in die neuen Großsiedlungen am Stadtrand "umgesetzt" werden, mit deren Planung 1962 begonnen wurde. Da der zum Neubau notwendige Grunderwerb wegen der geringeren Zahl an Eigentümern dort schneller abgeschlossen werden konnte als in den innerstädtischen Gebieten, standen gegen Mitte der sechziger Jahre bereits die ersten Häuser im Märkischen Viertel, der Gropiusstadt und dem Falkenhagener Feld in Spandau zur Verfügung. Wegen der wesentlich höheren Mieten hätte es einiger Überzeugungsarbeit bedurft, Bewohner aus günstigen Altbauwohnungen dafür zu gewinnen. Zentralheizung, Müllschlucker und ein Blick vom zehnten Stock hinter den Eisernen Vorhang waren für die wenigsten ein Argument, freiwillig zu höheren Preisen an den verkehrstechnisch unerschlossenen Stadtrand zu ziehen. Doch vielen blieb keine Wahl. Ihnen wurde die Kündigung angedroht und gleichzeitig von den im Viertel herumziehenden "Umsetzern" das Angebot gemacht, doch ins Märkische Viertel umzusiedeln. Wer auf die organisierten Busfahrten zum Beschnuppern der "Neuen Heimat" und das Angebot, den Umzug bezahlt zu bekommen, nicht einging, sah seine Umgebung allmählich verfallen. Niemand investierte mehr in den Erhalt der zum Abbruch bestimmten Gebäude. Weder die bisherigen Eigentümer, von denen etliche in der Hoffnung auf höhere Preise mit dem Verkauf warteten, noch die neuen Besitzer, Wohnungsbaugesellschaften wie die DEGEWO, die endlich mit der Sanierung beginnen und nebenbei ihre leerstehenden Großsiedlungen auffüllen wollten.

Berlin, 1968. Parallel zu den "Berliner Bauwochen" findet die Ausstellung "Diagnose zum Bauen in West-Berlin" statt, die von Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der Technischen Universität konzipiert wird. In Schaubildern werden die Verflechtungen von Politik und Wohnungswirtschaft dargestellt. Der Berliner Bausenator Schwedler ist beispielsweise gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der DEGEWO. Ein städtebauliches Umdenken setzt ein, das Märkische Viertel wird ebenso in Frage gestellt wie die innerstädtische "Flächensanierung".

Das Sanierungsgebiet Brunnenstraße kommt unterdessen nur schleppend voran, die Grundstücksverkäufe ziehen sich in die Länge. Die in Erwartung eines baldigen Abrisses zu früh "entmieteten" Altbauten werden vorübergehend an "Gastarbeiterfamilien" vergeben, die von der Wohnungsgesellschaft je nach Bautätigkeit im Viertel hin- und hergeschoben werden. Noch leben zahlreiche Altmieter in dem Viertel, Geschäfte gibt es aber kaum noch. Anläßlich der "Berliner Bauwochen" 1968 entsteht auch der heute von der "Schreber Jugend" genutzte Pavillon samt der Vitrine an der Stralsunder Straße. Der von den Architekten Siegfried Hoffie und Erwin Eickhoff errichtete und durch den Künstler Reinhard Braun mit riesigen Pfeilen bemalte Stahlbau wurde von der DEGEWO in Auftrag gegeben. Neben einer Ausstellung über die Sanierung im Wedding, die die Vorzüge des künftigen Stadtviertels darstellte, war dort auch die "Sanierungsberatungsstelle" untergebracht, der Anlaufpunkt für die "umzusetzenden" Bewohner. Ein zeitgenössisches Foto zeigt eine Dame im Kostüm, die ein Modell eines Neubaus trägt, vor der Kulisse freigelegter Brandwände. Daran sollte sich auch in den nächsten zehn Jahren nichts ändern. Zertrümmerte Altbauten stehen neben vereinzelten neuen Wohngebäuden. Die Abrissarbeiten werden zum Teil von alliierten Truppen übernommen, denen die Gebäude als Nahkampf-Übungsgelände zur Verfügung gestellt werden. In den nur noch zum Teil bewohnten Häusern platzen im "Jahrhundertwinter" 1977/78 zahllose Wasserrohre, die DEGEWO muß für die noch verbliebenen Anwohner sogenannte Wärmehallen anbieten. Erst Anfang der achtziger Jahre, nach über fünfzehnjähriger Bauzeit im Sanierungsgebiet, eröffnen an der Brunnenstraße einige Geschäfte. Während zur selben Zeit vorwiegend in Kreuzberg die Proteste gegen den Abriss ganzer Stadtviertel mit der Hausbesetzerbewegung einen Höhepunkt finden, blieb es im Wedding weitgehend ruhig. Nur bei der Räumung des Jugendzentrums "Putte" an der Puttbusser- / Ecke Rügener Straße regte sich 1974 ein wenig Widerstand.

Nach dem weitgehenden Abschluß der Flächensanierung an der Brunnenstraße leben statt 39.000 nur noch 14.700 Menschen in dem Gebiet. Die Bevölkerung wurde nicht nur mehr als halbiert, sie wurde komplett ausgetauscht.

Oliver Elser

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