23. 5. 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berliner Seiten
Hinter der traurigen Kulisse
Tristesse banal: Wie leben und arbeiten die Angestellten am Pariser Platz? Ein Streifzug durch Flure, Treppenhäuser und Büros
Das Verhalten von Touristen ist oft ein erstes Indiz, das etwas nicht stimmt. Eben noch gut gelaunt die Reichstagskuppel umkreiselt, verfinstert sich bei nicht wenigen beim Erreichen des Pariser Platzes der Blick. Die von Neugier und permanentem Hunger getriebenen, schauen sie so irritiert umher, weil statt des Brandenburger Tors die Telekom grüßt oder weil sie in "Berlins guter Stube" gerne mal die qualmenden Füße unter einen Cafétisch strecken würden, womit sie sich aber noch ein paar Hundert Meter gedulden müssen? Das "Tucher" direkt hinter dem Tor wäre zwar eine Möglichkeit, doch obwohl dessen Interieur den Wohnzimmergedanken mit Lederkissen und einer aus antiquarischer Meterware bestückten Bücherwand konsequent verwirklicht, sind selbst zur Mittagszeit die Tische nur zur Hälfte besetzt. Wer in einem der Bürobauten, die den Platz einfassen, arbeitet, hat entweder das Glück, in die eigene Kantine gehen zu können oder reiht sich ein in den Strom derer, die den Platz ganz und gar nicht gemütlich finden und deswegen rasch wieder verlassen. Wenn genug Zeit ist, springe er schnell in die S-Bahn, sagt ein Angestellter aus dem grauen "Europa-Haus" an der Ecke zur Wilhelmstraße, denn es sind ja nur zwei Stationen zur Oranienburger Straße und da sei wenigstens was los.
Während das Adlon sich ganz nach innen wendet und deswegen so einladend wirkt wie ein Luftschutzbunker, versucht man im Haus gegenüber das Beste aus der prekären Lage herauszuholen. Hinter riesigen Glasscheiben werden heiße und kalte Kaffeegetränke in Mitnehmbechern verkauft und es gibt Sandwiches in dreieckigen Plastikboxen, die man sonst nur von Tankstellen, den Gemeinschaftszentren der Suburbia, kennt. Die futuristische Inneneinrichtung, ein Erstlingswerk der Architekten "urban forms", verlangt von der Verkäuferin, daß sie ständig zwischen den frei in den Raum gestellten Tresen herumflitzen muß, wozu man ihr Rollschule gönnen möchte. Das wäre nicht nur ein aparter Anblick, sondern würde auch zum Boden passen, der aus Asphalt gegossen ist.
Die Rastlosigkeit am Pariser Platz steht in einem merkwürdigen Verhältnis zu den steinernen Fassaden, die ihn umgeben. Der modernen Architektur war in den frühen neunziger Jahren, als nach der Maueröffnung der Wind noch frei über die russischen Devotionalienverkäufer hinwegfegte, die Fähigkeit abgesprochen worden, einem barocken Stadtplatz eine Fassung zu verleihen. Manch einer, der damals gegen den "hemmungslosen Individualismus" zeitgenössischer Architekten polterte, mag dabei eine Filmszene aus Wim Wenders' "Bis ans Ende der Welt" vor Augen gehabt haben, der für das Jahr 1999 so kühne Erfindungen wie den gläsernen Kühlschrank prophezeit hat, die bis heute auf sich warten lassen. Auch die Gegend um das Brandenburger Tor stellte Wenders sich gläsern vor, als blitzende HighTech-Kulisse, auf die das Liebespaar bei Nacht herabschaut und sich nach einer Verfolgungsjagd quer über die Kontinente vergewissert, jetzt in Berlin angelangt zu sein, denn schließlich steht dort ja das Tor. Soweit durfte es nicht kommen! Jeder Zentimeter Fassade sollte vom seinerzeit mit lautem Getöse verkündeten Berlinischen Stil durchdrungen sein: Mehr geschlossene Wandflächen als Fensteröffnungen, ein ordentlicher Gebäudesockel und alles farblich untereinander und mit der vermeintlichen Sandsteinfarbe des Brandenburger Tores harmonierend. Nur was dahinter liegt, war egal. Natürlich nicht ganz, denn eine Shopping-Mall im braven Steinmäntelchen wäre niemals genehmigt worden. Aber es standen ohnehin genug Bauwillige bereit, die derartiges nicht im Sinn hatten, sondern nach einer repräsentativen Adresse suchten oder an den alten Standort der Vorkriegszeit zurückkehren wollten.
Abgesehen vom Hotel Adlon und der daneben in den nächsten Jahren entstehenden Akademie der Künste ist der Platz durchweg von Bürogebäuden umgeben, in deren Innern mehr oder weniger viel Fläche darauf verwendet wird, "Repräsentation" zu betreiben. Die Botschaften Frankreichs und der USA machen da keine Ausnahme.
Am untersten Ende der Repräsentationsskala steht ein Bau, dessen Name einen schon stutzig machen sollte, weil er so ungeniert aus Immobilienvermarktungsprosa zusammengetextet wurde: das "Palais am Pariser Platz", errichtet durch den Architekten Bernhard Winking aus Hamburg im Auftrage der Allgemeinen Hypothekenbank, die auch selbst zu den Mietern zählt. An keinem anderen Gebäude am Platz wird die Kluft zwischen Fassade und Innenräumen so deutlich, kein anderes versucht mit derart hilflosen Mitteln seiner wohlklingenden Adresse gerecht zu werden. Es genügt, am Café Tucher vorbei in den Innenhof zu gehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, unter welchen Zwängen der Architekt gelitten hat. Dort öffnen sich die Büros mit großen Glasflächen zum Hof, während sie am Pariser Platz und zur Ebertstraße hinter eine sogenannte Lochfassade gepfercht werden mußten. Von innen betrachtet, sind es wirklich nur Löcher in der Wand, die rein gar nichts mit den dahinterliegenden Räumen zu tun haben, weil die variierenden Raumgrößen der Büros mit dem starren Rhythmus der Fenster kollidieren. Vielleicht wäre das zu verschmerzen, wenn es da nicht zugleich die niedrigen Deckenhöhen, die endlosen, noch niedrigeren Gänge ohne Tageslicht, merkwürdige tortenförmigen Büros, brutal-plumpe Einheitslampen und ein Treppenhaus gäbe, das bei aller dreiläufigen Großzügigkeit den Charme einer Tiefgarage verströmt. Das alles ist nicht mehr mit der rigiden Gestaltungssatzung am Pariser Platz zu entschuldigen, sondern schlicht miserable Architektur von der Stange, für die ein knauseriger Bauherr und ein am Neuberliner Klassizismus kolossal gescheiterter Architekt sich die Verantwortung teilen müßten. Nur bekommt die Öffentlichkeit davon in der Regel nichts zu sehen. Antje Vollmer, die vorübergehend im "Palais" einquartierte Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, empfängt Besucher deshalb lieber im Reichstag als jedes Gespräch mit der Frage nach dem merkwürdigen Kasten zu beginnen, der unter der Decke in ihr Büro hineinragt. Es ist die Verkleidung der Klimaanlage.
Daß selbst ein "Investitionsobjekt" ohne quälende Abschreibungsathmosphäre gelingen kann, zeigt das zweite durch eine Immobiliengesellschaft errichtete Haus am Pariser Platz. Das Gebäude der Architekten Ortner und Ortner gegenüber dem Adlon wirkt von außen recht martialisch; eng gesetzte französische Fenster geben einen Takt, der einen gerade an diesem Platz leicht an Marschmusik erinnern kann. Innen aber schlägt die Disziplin in Großzügigkeit um. Statt auf Fluren herumzutappen, in denen alles irgendwie grau-weiß, anorganisch und schwer entflammbar ist wie im "Palais", sind hier die Türen aus Holz, der Boden rot, die Toilettenräume schwarz und die Decken das Ergebnis von Gestaltung, nicht von Willkür. Die Klarheit geht soweit, die Aufzüge innen komplett mit Bronze auszukleiden und dafür auf den obligatorischen Spiegel zu verzichten. Hier muß die Frisur einfach sitzen, bevor man die sakrale Eingangshalle aus grünem Marmor durchschreitet und sich am bronzenen Tresen beim Pförtner anmeldet.
Der sonst für sein saloppes Verhältnis zur Architektur bekannte Architekt Frank Gehry hat sich bei der DG-Bank ganz ähnlich zurückgehalten. Die Materialien sind zwar eher casual, aber Gehry hat streng darauf geachtet, daß sie ihm nicht aus dem Ruder laufen. Das Haus wirkt vom großen, überdachten Innenhof aus gesehen wie ein hölzernes Schatzkästchen, errichtet einzig und allein um die metallisch-fließende Riesenskulptur zu schützen, in der sich kein Tresor, sondern ein Konferenzraum verbirgt. Jedes der nach innen gelegenen Büros hat deckenhohe Fenster, durch die ein kleiner Balkon betreten werden kann. Die Idee könnte aus einem Marthaler-Stück stammen: Beim dröhnenden Schlag auf die Metallhaut des Konferenzsaales erscheinen die Angestellten auf den Balkonen und beginnen zu singen. Nicht wenige Mitarbeiter lassen bei so viel baulich eingeräumtem Gemeinschaftsgefühl lieber die Jalousien herunter.
Die Gänge sind endlos, werden aber, so wird versichert, noch aus der großen Photokunstsammlung der Bank bestückt. Ohnehin hat man wegen der Glasfelder in den Türen nie den Eindruck, im Innern eines undurchdringlichen Komplexes zu sein. Ein wenig unheimlich dagegen ist das permanente Abtasten der ID-Karte, mit der die Angestellten nicht nur Türen öffnen und Aufzüge in Fahrt setzen, sondern auch den Kaffeeautomaten bedienen und dabei wahrscheinlich von einem Zentralcomputer im Beton-Fuß des Metallgespensts registriert werden. Die erhöhte Sicherheitsstufe ist der Preis dafür, daß zu bestimmten Anlässen der Innenbereich für die Öffentlichkeit freigegeben wird.
Gegenüber, bei der Dresdner Bank, ist die Masse der Büros aus derselben Not heraus um einen glasgedeckten Hof gruppiert. Nur sind von Gerkan, Marg und Partner (gmp) aus Hamburg ein zu großes und routiniertes Architekturbüro, um dieser Glasrotunde auch nur die Spur von etwas Geist einzuhauchen, wie er drüben bei Gehry durch den Innenhof weht. Hinter dem Eingang ist schnell Schluß mit dem angedeuteten Art-Déco der Fassade, deren klaffenden Steinfugen man viele Kaugummipapierchen und Zigarettenstummel wünschen möchte. Die Viel- und Allesbauer gmp haben einfach die Musterdateien für Glaswendeltreppen, Glasaufzüge und Büroflurdetails auf ihrer Festplatte hochgefahren und damit einen durchaus nicht schäbigen Innenausbau gemacht. Ihnen war der Pariser Platz wohl egal, dem Auftraggeber aber offensichtlich nicht, weswegen die Salonräume mit Kamin und Piano, die zum Platz zeigen, wieder ganz in Bankenvorstands-Art-Déco gehalten sind.
Die beiden kleinsten Häuser am Platz flankieren das Brandenburger Tor. In einem sitzt die Hauptstadtrepräsentanz der Commerzbank, die sich am Telefon mit "Protokoll!" meldet und auch "unser Lobbyist im Bundestag", wie man etwas geheimnisvoll mitteilt, hat dort seinen zweiten Schreibtisch. Der Innenausbau des auch für die Außenfassade verantwortlichen Architekten Josef Paul Kleihues sorgt dafür, dass es bei der Lobby-Arbeit nicht allzu gemütlich wird. Auch Kleihues hat ein klares Materialkonzept: Weiß, schwarz und Holz. Oft wirkt die edle Materialwahl etwas angestrengt, so etwa im Treppenhaus, wo der schwarze Marmorboden bereits nach wenigen Monaten stumpf geworden ist. Hat der Architekt vergessen, daß die Marmortreppen in den pompösen Gründerzeit-Treppenhäusern, die er wohl vor Augen hatte, immer mit Teppichen bespannt sind? Die Nutzer des Hauses behelfen sich im Eingangsbereich mit roten Läufern, nur an der schwierigen Geometrie der platzsparenden Treppe versagt der provisorische Schonbelag. Immerhin, wer dem Vorstand der Bank zuarbeitet, hat das Privileg geräumiger Büros und genießt sogar den Luxus eines schlichten rechteckigen Schreibtisches, was sonst bisher in keinem Gebäude am Platz zu finden war. Überall gibt es verwinkelte Monitor+Schreibunterlage-Kombinationen, die ein kleines Büro noch mehr beengen.
Das Zwillingsstück auf der anderen Seite des Brandenburger Tores wird von der "Stiftung Brandenburger Tor" als Ausstellungs- und Bürogebäude genutzt. Die Architektur stammt zwar ebenfalls von Kleihues, mit dem Ausbau wurde aber die Innenarchitektin Margit Flaitz beauftragt. Wegen der zweistöckigen Ausstellungshalle und dem darüberliegenden Salon- und Tagungsgeschoß liegen die Büroräume der Stiftung im obersten Stockwerk, Tageslicht fällt durch ein Glasdach in den Gang, von dem die Büroräume abzweigen. Vieles ist hier in einem Farbton gehalten, den man als "frisches Grün" bezeichnen und als Reminiszenz an das Kupferdach des Adlon deuten könnte. Im Nebenzimmer ist das Büro von Roman Herzog, dem Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung. Auch sein Fenster weist zur lärmigen Ebertstraße und läßt sich wie überall am Pariser Platz entweder ganz oder gar nicht öffnen, weil die Architekten sich weder zu einem zeitgenössischen Doppel- noch zum Berliner Kastenfenster hinreißen ließen. Vom Zwang zur Rekonstruktion eines verlorenen Platzes bei gleichzeitiger Renditemaximierung ist hier oben nichts zu spüren, wohl aber davon, daß es am Pariser Platz keinem Architekten gelingt, etwas vom Charme historischer Innenräume in die heutige Zeit hinüberzuretten. Entstanden sind traurige Kulissen, die an der Türschwelle in sich zusammenbrechen und zwei ehrenwerte Lösungen, das Haus der Ortners und das von Frank Gehry, mit denen bewiesen ist, daß gute Architekten auch unter strikten Bedingungen gute Architektur abliefern. Wenn sie denn gute Bauherren haben. Das Experiment sollte schnell abgebrochen werden, bevor die Amerikaner mit dem Bau ihrer Botschaft beginnen. Frank Gehry wäre der bessere Architekt.
Oliver Elser
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