15. 2. 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung


Wo, wenn nicht hier?

Das gläserne Berlin: Ein Haus am Hackeschen Markt von Grüntuch/Ernst-Architekten

Was ist dieser Bau schon gelobt worden! Kaum setzt im steinseeligen Berliner Klima ein Architekt eine große Glasscheibe ein, greift in den Farbtopf oder zieht ein paar schräge Linien, stehen die Kritiker Schlange um zu applaudieren. Daß es dem jungen Architekturbüro Grüntuch/Ernst ausgerechnet am Hackeschen Markt, in der heimeligen Pseudo-Altstadt Berlins gelungen ist, mit einem unverkennbar modernen Bau aus der Reihe des historischen und historisierend-mittelmäßigen zu tanzen, gilt als kleine Sensation. Über die dann auch gerne und viel eher berichtet wird, als über die recht zahlreichen gelungenen Neubauten in den Seitenstraßen, die weniger stark auf Kontraste setzen. In der eindeutigen Vorliebe für alles gläserne, angeblich moderne schwingt noch ein Rest jenes erbitterten Streits um Stein und Glas, der Mitte der neunziger Jahre mit einer Niederlage der vermeintlich fortschrittlichen Fraktion endete, zu deren Vorkämpfern sich stolz fast die gesamte Architekturpresse zählte.

Es ist anzunehmen, daß das junge Architektenpaar Almut Ernst und Armand Grüntuch gar nicht weiter darüber nachdachte, ob und wie sie zu Lieblingen der Architekturkritik werden, sondern einfach loslegten, als ihnen ein ungewöhnliches Angebot gemacht wurde. Ein Lampenhersteller, für den sie bereits kleinere Aufträge erledigt hatten, bat um einen Entwurf für ein Wohn- und Geschäftshaus, mit dem der Bauherr nicht kurzfristige Profite anpeilte, sondern eine Kapitalanlage für kommende Generationen schaffen wollte. Während üblicherweise die Architektur erst dann beginnt, wenn ein Maximum vermietbarer Fläche aus einem Baukörper herausgequetscht ist, konnte in diesem Falle zunächst viel grundsätzlicher gefragt werden, welche Qualitäten eigentlich in einem solchen Baulücken-Grundstück verborgen sind. Mit reizender Naivität fanden die Architekten Gefallen an den gewaltigen Brandwänden, die das Baugelände einschließen und entschieden, zu einer Wände mit einer breiten Fuge Distanz zu halten. Städtebaulich ist diese Geste sofort nachzuvollziehen. Zur rechten Seite schließt das Gebäude an die wuchtige Straßenfront der Hackeschen Höfe an und übernimmt mit abstrakten Mitteln deren Fassadenproportionierung, links hingegen läßt es an genau der Stelle einen Spalt, wo die niedrigere und weniger einheitliche Bebauung der Oranienburger Straße beginnt. Im Prozeß der architektonischen Formgebung aber wurde aus der Lücke ein selbständiger Gebäudeteil, ein in Stein gerahmter Kasten, dessen mattierte Glasflächen bei Tage betrachtet den Eindruck erwecken, daß sich darin das Treppenhaus verbirgt. Erst wenn am Abend das Licht angeschaltet wird, zeigt sich ein atemberaubender Maßstabssprung, denn statt des erwarteten Treppen-Zickzacks treten zwei jeweils doppelgeschossige Konferenzräume hervor, durch deren gläserne Rückwände der Blick weit in die nun wirklich erlebbare Fuge hineinreicht. Vom spröden Charme der Brandwand ist dort zwar nichts mehr zu finden. Dafür aber ist eine Schlucht entstanden, die zu den ungewöhnlichsten Innenräumen in der jüngeren Berliner Neubaugeschichte zählt und mit schräg zulaufenden Wänden das coole Understatement der Außenfassade angenehm relativiert.

Der Besucher gelangt durch diese Gebäudefuge in den hinteren Teil des Hauses, wo sich sieben Wohnungen zu einem kleinen Hinterhof öffnen. Auch dort wird der asketische Minimalismus der Straßenseite in freie Formen aufgelöst. Der dem Wohnen vorbehaltene Seitenflügel wölbt sich vor und zurück, antwortet mit dieser vielleicht etwas kapriziösen Figur aber sehr pragmatisch auf die beengten Verhältnisse. Den von der Bauordnung vorgeschriebenen Kinderspielplatz wollten die Architekten dennoch nicht in dem trotz aller Raffinesse eher schattigen Hinterhof anlegen. Mit einem Trick gelang es, die Vorschriften zugunsten des sicherlich spektakulärsten Sandkastens der Stadt umzudeuten. Auf dem Dach des Wohnflügels sorgt nun eine Videokamera für die geforderte "Einsichtigkeit" der spielenden Kinder, die sich darüber freuen können, auf die Dächer des Bezirks Mitte herabzuschauen, während ihre Eltern ihnen auf dem Fernsehschirm dabei zusehen können.

Die beiden schrägen Dachgeschosse des Vorderhauses sind ebenfalls dem Wohnen vorbehalten und gewähren einen nicht minder überwältigenden Blick in Richtung Fernsehturm. Aber auch von den darunterliegenden Großraumbüros mit ihren großzügigen Deckenhöhen und aus den zweigeschossigen Konferenzräumen erscheint die Stadt wie ein grandioses Panorama. Die Verwendung riesiger Glasflächen ist an diesem Standort keine ideologische Frage. In Berlin sind die Orte rar, an denen die Aussicht nicht von der gegenüberliegenden Häuserzeile begrenzt wird. Kein Zweifel, es ist das richtige Haus für diesen Platz.

Oliver Elser

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